Krise im Kopf

Krise im Kopf Brüssel (dapd). Mit Schaudern denkt Jörg Krämer an den Sommertag zurück, der sein Berufsleben auf den Kopf stellte. „Als die Geldmarktsätze auseinanderflogen, dachten wir erst an einen Datenfehler im System“, erinnert sich der Chefvolkswirt der Commerzbank an jenen 9. August 2007, als die US-Hypothekenkrise endgültig nach Europa rüberschwappte. „Aber als die Europäische Zentralbank kurz darauf Milliarden in den Markt pumpte, wusste ich: Die Krise hat begonnen.“ Für Krämer und andere Ökonomen brachen turbulente Zeiten los, die ihnen die Fehlbarkeit ihrer eigenen Prognosen vor Augen führten. „Danach war nichts mehr wie vorher“, blickt der Bankenexperte Hans-Peter Burghof heute zurück. Die Finanzkrise verschärfte sich rasant, riss erst die Investmentbank Lehman, dann ganze Volkswirtschaften und schließlich auch den Euro in ihren Strudel. Inzwischen können und wollen viele Normalbürger den täglichen Hiobsbotschaften nicht mehr folgen. Politiker sind überfordert, auch Fachjournalisten stoßen an ihre Grenzen. In solchen Krisenzeiten sind Experten gefragt, die den komplexen Informationsfluss verdauen, analysieren und einordnen – Männer wie Krämer und Burghof. „Ich habe kaum noch Tage ohne Medienanfrage“, seufzt Burghof, während vor seiner Bürotür schon das nächste Fernsehteam wartet. Es klingt, als wisse er nicht so recht, ob er sich darüber nun freuen oder ärgern soll. Vor EU-Gipfeln klingelt sein Telefon besonders häufig, 20 Anfragen pro Woche sind dann keine Ausnahme. Burghof versucht, sie alle zu beantworten. „Medien müssen immer gleich behandelt werden“, sagt der Professor für Bankwirtschaft an der Universität Hohenheim. „Deshalb habe ich selbst für das Leipziger Studentenradio noch in der größten Hektik ein Ohr.“ Von solch hehren Ansprüchen hat sich Guntram Wolff längst verabschiedet. „Wir haben eine Rangliste von Medien“, verrät der Vizedirektor des Brüsseler Thinktanks Bruegel, ein viel gefragter Experte für Wirtschafts- und Währungsfragen. „Wenn das ‚Wall Street Journal‘ oder die ‚New York Times‘ anrufen, nehmen wir das eher entgegen als bei Regionalzeitungen.“ In besonders geschäftigen Wochen hätten „nur Premiummedien“ eine Chance, für den Rest bleibe keine Zeit. Denn die eigene Forschung müsse im Zweifelsfall Priorität haben, „sonst wird man in die Krise hineingesogen“. Fünf schmerzhafte Fehlprognosen Jörg Krämer wird häufig auch von Kundenberatern aus dem eigenen Haus um Rat gefragt. „Wie wird das Anleihenkaufprogramm der EZB aussehen? Wie urteilt das Verfassungsgericht zum ESM? Wie sieht die Währungsunion in fünf Jahren aus? Antworten darauf kann man nicht in Büchern finden.“ Nach nächtlichen Gipfelmarathons pflügt er schon mal morgens um 6.00 Uhr mit seinem Team durch die Abschlussdokumente, um Kundenunternehmen bis 8.00 Uhr eine Analyse zu liefern. Ständig neue Reports erstellen, das muss seit Beginn der Krise auch Heiner Flassbeck – für die Vereinten Nationen. Überfordert fühle er sich als Chefvolkswirt der UN-Organisation für Welthandel und Entwicklung nie, weil er von der immer schneller rotierenden Nachrichtenspirale vieles als unwichtig ausblende. „Ich bin ja kein Berichterstatter, sondern Analytiker. Und mein ökonomisches Raster hat sich seit den neunziger Jahren nicht verändert.“ Auch Krämer zählt auf seinen „inneren Kompass grundlegender Überzeugungen“. Und weil der alleine nicht ausreicht, steht ihm bei der Commerzbank ein Krisenteam mit zwölf Volkswirten, acht Zins- und acht Divisenexperten zur Seite. Aber Hand aufs Herz: Ist es überhaupt möglich, alle Krisenstränge stets im Auge zu behalten? „Das können wir“, versichert Krämer. „Wir sind eigentlich immer im Bilde“, sagt auch Bruegel-Forscher Guntram Wolff. „Das ist weder möglich noch nötig“, entgegnet der Fondsmanager Max Otte. Er suche lieber gezielt nach Lücken in den Argumente der Anderen. Der Wormser BWL-Professor, bekannt geworden durch sein 2006 erschienenes Buch „Der Crash kommt“, genießt sein Image als Krisenprophet. Sich selbst nennt er lieber einen „Seher, der die Gegenwart deutet“. Otte hat ja einen Fond zu vermarkten. Aller Umsicht zum Trotz, vor Fehlschlägen sind auch Ökonomen nicht gefeit. Flassbeck etwa gibt zu, die Subprime-Blase in den USA seinerzeit gehörig unterschätzt zu haben. Wolff ärgert sich im Nachhinein über sein Urteil zur spanischen Bankenrettung, das angesichts der Marktreaktion wohl zu überschwänglich gewesen sei. Bei Burghof ging die Vorhersage in die Hose, dass die Krise den deutschen Arbeitsmarkt 2008 schwer belasten würde. Und Jörg Krämer grämt sich ob seiner verfehlten Konjunkturprognose aus dem Jahr 2007, als er das Wachstum unterschätzte. Als Ökonom habe ihm das „weh getan“, sagt er. Fünf goldrichtige Vorhersagen Otte wiederum verrät nach langem Zögern, dass er „hin- und hergerissen ist wegen dieses Aufrufs, den ich unter Zeitdruck unterschrieben habe“. Er meint den Protestbrief von Hans-Werner Sinn und mehr als 200 anderen Ökonomen gegen die jüngsten EU-Gipfelbeschlüsse. „Später habe ich mich gefragt, ob das richtig war, weil die Beschlüsse eigentlich ganz geschickt formuliert wurden.“ Guntram Wolff jedenfalls ist der Aufruf ziemlich übel aufgestoßen, er fand ihn „in Teilen populistisch. Danach habe ich sofort E-Mails an ein paar alte Studienfreunde und Mit-Unterzeichner geschrieben und sie gefragt: Wie konntet ihr das unterschreiben!?“ Aber auch in der Krise gibt es Glücksmomente. So hat Flassbeck das Euro-Chaos nach eigenem Wissen „als Einziger“ schon vor 15 Jahren vorhergesagt. Otte machte Kasse mit seiner Crash-Prognose in Buchform. Wolff ist stolz, noch vor der Politik für eine Banken- und Fiskalunion plädiert zu haben. Und Krämer schreibt sich auf die Fahne, bereits im Februar 2010 erkannt zu haben, „dass die Währungsunion zu einer Transferunion mutiert“. Nur Burghof will sich keines persönlichen Meisterstücks rühmen, „weil die Krise menschlich, moralisch und wirtschaftlich eine Katastrophe ist“. In einem sind sie sich aber einig: Langsam ist es wahrlich genug mit dem Stress. Nach fünf Jahren Dauerkrise und mehrfachen Anhörungen im Bundestag stellt nicht nur Flassbeck Abnutzungserscheinungen bei sich fest. „Ein gewisser Ermüdungseffekt ist schon da“, räumt er ein. „Ich werde resignativer und zynischer angesichts der Unfähigkeit der Politik, unsere dringenden Probleme zu lösen.“ Egal wie viel Expertise angeboten werde, am Ende spiegele sich nur ein Bruchteil davon in politischen Entscheidungen wider. Flassbecks Fazit: „Da reden Sie gegen Mauern an.“ So oder so ähnlich sprechen auch seine Kollegen über ihr nagendes „Gefühl des Vergeblichen“. Der ewige Ausnahmezustand, er zehrt nicht nur an der Substanz. Irgendwann kann auch die wissenschaftliche Vogelperspektive verloren gehen. Guntram Wolff etwa vermisst die Zeit zum Innehalten, zum Abstand nehmen vom Hamsterrad der permanenten Krise. Andererseits ist er wie andere Ökonomen froh, das überhaupt miterleben zu dürfen: „Vor allem die letzten zwei Jahre hatten historische Dimensionen und werden sicher noch in künftigen Geschichtsbüchern diskutiert.“ Und dann, ohne es zu merken, wagt er doch wieder eine Prognose: „Glauben Sie mir: Die nächsten Monate werden noch historischer.“ (* Die vielleicht bekanntesten deutschen Ökonomen, der Wirtschaftsweise Peter Bofinger und Ifo-Präsident Hans-Werner Sinn, wollten sich auf dapd-Anfrage nicht zu ihren Krisenerfahrungen äußern. Beide arbeiten gerade hoch konzentriert an neuen Büchern, die demnächst erscheinen sollen. Was sie deshalb brauchen, ist das, was sie sonst kaum haben. Bofinger fasst es in drei Worten zusammen: „Zeit zum Innehalten.“) © 2012 AP. All rights reserved (Politik/Politik)

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Peer-Michael Preß

Peer-Michael Preß – Engagement für die Unternehmerinnen und Unternehmer in der Region seit fast 20 Jahren. Als geschäftsführender Gesellschafter des Unternehmens Press Medien GmbH & Co. KG in Detmold ist er in den Geschäftsfeldern Magazin- und Fachbuchverlag, Druckdienstleistungen und Projektagentur tätig. Seine persönlichen Themenschwerpunkte sind B2B-Marketing, Medien und Kommunikationsstrategien. Sie erreichen Peer-Michael Preß unter: m.press@press-medien.de www.press-medien.de

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