v.l.n.r.: Justin Baudisch, Prof. Dr. Thorsten Jungeblut, Prof. Dr. Udo Seelmeyer und Tobias Ehlentrup von der FH Bielefeld. (Foto: P. Pollmeier/FH Bielefeld)
v.l.n.r.: Justin Baudisch, Prof. Dr. Thorsten Jungeblut, Prof. Dr. Udo Seelmeyer und Tobias Ehlentrup von der FH Bielefeld. (Foto: P. Pollmeier/FH Bielefeld)

Wenn das Bett den Puls misst: Forschung der FH Bielefeld im neuen GesundZentrum

Bielefeld – Im neuen GesundZentrum am Südring in Bielefeld Brackwede können Pflegebedürftige, ihre Angehöri­gen und Pflegepersonal interdisziplinär entwickelte Technologien für das Gesundheitswesen aus dem Forschungsverbund CareTech OWL erleben und sich beraten lassen – auch zur Finanzierung! Denn: Noch kommt zu wenig intelligente Technik in der Praxis zum Einsatz.

Der Roboterarm am Pflegebett reicht das Telefon per Sprach­steuerung an oder assistiert bei Pflegehandlungen. Das intelligente Zuhause erkennt Alltagsroutinen und schlägt bei Abweichungen Alarm. Das mit Sen­soren ausgestattete Bett übermittelt Vitaldaten eines Patienten und meldet sich, wenn die Gefahr droht, wundzuliegen. Digitalisierte Technik, wie sie im Rahmen des interdisziplinären Forschungsverbunds der Fachhochschule (FH) Bielefeld „CareTech OWL“ entwickelt wird, kann sehr praktische Hilfen im Ge­sundheitswesen bieten. Zu erleben sind die Innovationen seit einigen Wochen im neuen GesundZentrum am Bielefelder Südring.

Pflegebedürftige Menschen und ihre Angehörigen brauchen jede Unterstüt­zung, die sie bekommen können. Wie auch das Personal in Kliniken in Zeiten des Fachkräftemangels. Aber welche Dienstleistungen und Hilfsmittel gibt es überhaupt? Und welche innovativen assistiven Technologien können das Leben aller Beteiligten erleichtern? Mit diesen Fragen beschäftigt sich CareTech OWL als Kooperationspartner im neuen GesundZentrum. CareTech OWL bündelt als Forschungsverbund die an der FH Bielefeld vorhandenen interdisziplinären For­schungs- und Entwicklungsexpertisen von Gesundheits-, Sozial-, Wirtschafts-und Ingenieurwissenschaften.  

„Im Bereich der Assistenztechnologie wird seit 20 Jahren intensiv geforscht, aber noch immer kommt viel zu wenig intelligente Technologie in der Praxis an“, berichtet Prof. Dr. Udo Seelmeyer vom Fachbereich Sozialwesen an der FH, einer von vier CareTech OWL-Sprecher*innen. Das soll sich durch die Mit­wirkung des FH-Forschungsteams im GesundZentrum ändern. Das Ziel ist es, Forschung anschlussfähig für die Umsetzung in der Praxis zu machen. Und im besten Fall mit Partnern aus der Wirtschaft einem Prototyp zur Marktreife zu verhelfen. „Wir wollen mit unserer Forschung in die Praxis hinein gehen“, be­tont Prof. Seelmeyer.

Forschung erlebbar machen, Orientierung im Pflegedschungel bieten

Genau das passiert am Bielefelder Südring. Das GesundZentrum unter dem Dach der PVM Patienten Versorgung Management GmbH will gemeinsam mit der Expertise seiner Partner aus dem Gesundheitswesen Orientierung im Pfleged­schungel bieten, Menschen bei ihren Fragen rund um die Themen Gesundheit, Pflege und Versorgung ganzheitlich beraten und Lösungen für ihre täglichen He­rausforderungen finden. Mit im Boot sind neben CareTech OWL unter anderem die Stadt Bielefeld mit ihrer kostenfreien Pflegeberatung, Ärztenetz Bielefeld e. V., Fachfirmen für Medizinprodukte zum Beispiel zur Sauerstoff- und Inkonti­nenzversorgung, Anbieter von Bewegungs- und Ernährungskursen, Bethel regi­onal und weitere Unterstützer. Dazu gehören auch Handwerksbetriebe, die bei der Umgestaltung des häuslichen Umfelds im Pflegefall oft unerlässlich sind.

In den Räumlichkeiten eines ehemaligen Mode-Outlets ist mit dem GesundZen­trum auf 750 Quadratmetern eine beispielhafte Beratungs- und Erprobungs­fläche entstanden. „Zusammen mit unseren Partnern haben wir nun einen Ort, an dem sich die Bürgerinnen und Bürger sowie Beteiligte am Gesundheitswe­sen informieren und austauschen können“, sagt PVM-Geschäftsführer Markus Wendler. „Wir können hier Fragen und Bedarfe der Pflegebedürftigen aufneh­men und an die Forschenden weiterleiten.“ Von diesem Austausch profitiert die Wissenschaft und erhält – so die These – neue Ideen für eine bedarfsorientierte Forschung.

Smart Home für Pflegebedürftige: Die eigenen vier Wände werden intelli­gent

Wie assistive Technologien im häuslichen Kontext funktionieren, zeigt die „Erle­benWelt“ im GesundZentrum. In einer komplett ausgestatteten Musterwohnung können sich Pflegebedürftige, ihre Angehörigen und Fachkräfte aus der Gesund­heitsbranche nicht nur zu Hilfsmitteln, Dienstleitungen, Fördermöglichkeiten beraten lassen, sondern alles gleich auch selbst testen. Die meisten Menschen möchten ihren Alltag möglichst selbstständig gestalten können. Menschen mit Behinderung und Ältere brauchen dabei je nach gesundheitlicher Situation aber Hilfestellungen. Auch für Angehörige bleibt oft eine große Unsicherheit, ob es der zu pflegenden Person allein daheim gutgeht. Erste technische Lösungen für mehr Sicherheit in den eigenen vier Wänden haben Prof. Dr. Thorsten Junge­blut und sein Doktorand Justin Baudisch vom Institut für Systemdynamik und Mechatronik (ISyM) der FH Bielefeld entwickelt: Durch den Einsatz von Bewe­gungsmeldern und Sensoren haben sie ein intelligentes System entwickelt, das die Bewegungsabläufe einer Person erfasst, auswertet und somit „lernt“, wie die Alltagsroutine aussieht. „Wann werden beispielsweise welche Lichtschalter betätigt, die Kaffeemaschine eingeschaltet oder ein Wasserhahn im Bad aufge­dreht“, erklärt Prof. Dr. Jungeblut. „Kommt es zu Abweichungen, kann es sein, dass jemand gestürzt ist oder morgens das Bett nicht verlassen hat. Dann setzt das System einen Notruf an die Angehörigen oder den Pflegedienst ab.“ Um Sicherheit vor unbefugter Datennutzung zu gewährleisten, werden die meisten Daten vor Ort verarbeitet und kommen gar nicht erst in die Cloud. Durch Auswertung und Kombination der Daten kann ein Aktivitätsindex erstellt werden, ohne zu stark in die Privatsphäre der Person einzugreifen. Das ist Be­ruhigung und Entlastung für Angehörige, die mittels der Technik sehen können, dass zu Hause alles seinen gewohnten Gang geht.

Einfach zu integrierende Lösungen statt Hightech-Zentrale

Wer jetzt meint, dass digitalisierte Zuhause sähe wie eine Hightech-Zentrale aus, liegt falsch. Es war den Forschungsteams wichtig, dass das smarte Home wohnlich bleibt und einfach nachzurüsten ist. Die kostengünstige Elektronik, die in Form von Bewegungsmeldern, Lichtschaltern, Tür- oder Fenstersensoren zum Einsatz kommt, ist dezent oder sogar meist unsichtbar verbaut. Wie auch der Wasserzähler in der Decke des Ausstellungsbades, der den Durchlauf misst: Rauscht das Wasser über längere Zeit durch, deutet das darauf hin, dass der Bewohner bestenfalls schlicht vergessen hat, den Hahn zuzudrehen. Oder aber, dass er oder sie in der Dusche das Bewusstsein verloren hat.

Zur Installation des sensorikbestückten Wasserzählers ist Doktorand Justin Baudisch, der Informatik studiert hat, selbst auf die Leiter gestiegen. „Mir ge­fällt die praktische Seite an den Forschungsarbeiten zu meiner Dissertation“, erzählt er. „Das ist eine schöne Abwechslung zu der Zeit, die ich am Rechner verbringe. Mich fasziniert an dem System, dass es auch Hinweise auf mögliche Erkrankungen gibt. Bei einer beginnenden Alzheimer-Erkrankung beispielswei­se, denn dabei verlangsamen sich die Bewegungsabläufe. Das können wir mit unserer Technik abbilden.“ Anhand der Aktivitätsmuster sind Therapieerfolge ebenfalls ablesbar, wie etwa nach der Entlassung aus dem Krankenhaus oder nach einer Reha.

Maschinelle Intelligenz unterstützt den Alltag im eigenen Zuhause

Das System kann noch vieles mehr: Durch die Messung der Luftfeuchtigkeit werden auf Wunsch Empfehlungen zum Lüften gegeben. Zudem können die Bewegungsmelder schon rechtzeitig dafür sorgen, dass Türen geöffnet werden – für Menschen im Rollstuhl eine deutliche Erleichterung. Oder, ebenfalls eine große Hilfe: Wenn jemand nachts ins Bad muss, wird automatisch das Licht auf dem Weg dorthin angeschaltet. Das System kann auch erkennen, ob die Woh­nung für längere Zeit verlassen wurde, was auch manchmal Aufschluss darüber gibt, dass etwas nicht stimmt.

Die FH Bielefeld macht im GesundZentrum die Technik für eine solche intel­ligente Wohnung unmittelbar erlebbar und informiert über die konkreten Einsatzmöglichkeiten neuester wissenschaftlicher Ergebnisse. Die ersten Pro­jektergebnisse basieren auf einem it’s OWL Transferpiloten mit dem Titel „Ma­schinelle Intelligenz für die Prädiktion von Interaktion anhand von Bewegungs­daten“. Projektvolumen: 232.000 Euro. Die Fördersumme beträgt 100.000 Euro. Weitere 121.000 Euro trägt der Transferpartner Steinel Gruppe, ein tech­nischer Ausstatter für Immobilien aus Herzebrock-Clarholz.

Roboterarm reicht dem Kranken eine helfende Hand

Es sind oft kleine Handreichungen, die im Pflegekontext in der Summe sehr viel Zeit kosten und Personal binden: Ein am Nachttisch installierter Roboterarm aus dem FH-Labor kann da Abhilfe schaffen und Pflegende in Kliniken, Pflege­einrichtungen oder zu Hause deutlich entlasten. Mittels Sprachsteuerung reicht er Bettlägrigen Fernbedienung, Rätselheft oder Telefon. Die helfende Hand wur­de am ISyM der FH entwickelt unter der Leitung von Prof. Dr. Axel Schneider, Prodekan für Forschung, Entwicklung und Transfer am Fachbereich Ingenieur­wissenschaften und Mathematik. „Der Arm stoppt automatisch bei Berührung. Mikrofon und Lautsprecher sind so ausgerichtet, dass der Bettlägrige das Sys­tem mittels Sprache bedienen kann“, erläutert Tobias Ehlentrup, Technischer Geschäftsführer des ISyM.

Waren früher Steuerungselemente für Robotik groß und sperrig, so passt heute alles in einen kleinen Kasten, der sich bequem im Nachtschrank verstauen lässt. Weitere Unterstützung bietet eine sich in der Entwicklung befindliche human­mechatronische Orthese mit gezielter Kraftunterstützung für den Care-Sektor. Der Prototyp stammt aus dem Labor für Biomechatronik der FH Bielefeld. Rund um das Bett ist allerdings noch viel Raum für technische Lösungen, die das Pfle­gen deutlich erleichtern: So kann ein mit Sensoren ausgestattetes Pflegebett Vitaldaten aufzeichnen, im Sinne der Dekubitusprophylaxe drohende Druckstel­len erkennen und die Pflegenden über eine anstehende Umbettung der Patien­ten informieren.

Komplizierte Verfahren zur Kostenübernahme: Beratungsangebot startet im März

„Alles, was Pflegekräfte entlastet, ist in Zeiten von Personalmangel fundamen­tal. Denn so können sich die Pflegenden auf die Aufgaben konzentrieren, die nicht von technischen Lösungen übernommen werden können – und so bleibt vielleicht auch irgendwann mehr Zeit für Gespräche“, betont PVM-Projektleiter Bernd Reger.

Durch die jüngste Novellierung des Bundesteilhabegesetzes wurden Grundla­gen für die Kostenübernahme von technischer Assistenz in der Eingliederungs­hilfe geschaffen. „Allerdings besteht hier ein hoher Beratungsbedarf: bei Men­schen mit Behinderung, ihren Angehörigen, aber auch bei Fachkräften“, weiß Prof. Dr. Udo Seelmeyer. Häufig stellen sich Fragen zu der Kostenübernahme. Wer ist zuständig? Kranken- oder Pflegekasse, der Landschaftsverband West­falen-Lippe oder das Amt für soziale Leistungen? Neben einem allgemeinen Leistungskatalog für Hilfsmittel besteht nach dem Gesetz zur sozialen Teilhabe auch die Möglichkeit, Leistungen individuell zu beantragen. Ein komplexes Feld.

Hier wird die FH Bielefeld im neuen Jahr ein Modellprojekt von Bethel regional für ein Beratungszentrum zu assistiven Technologien für Menschen mit Behin­derungen mit aufbauen. Es geht um kompetente Beratung im Hinblick auf mög­liche Kostenübernahmen und Unterstützungsmöglichkeiten durch Assistenz­technologien. Das Modellprojekt wird von der Stiftung Wohlfahrtspflege NRW gefördert, auch die Universität Bielefeld ist an der wissenschaftlichen Beglei­tung beteiligt. Zudem wird die FH Bielefeld im GesundZentrum in Kooperation mit Bethel regional zum 1. März 2023 eine Tandemstelle im Projekt Career@BI besetzen, die dafür sorgen soll, dass Assistenztechnologien aus der Forschung zu marktfähigen Produkten weiterentwickelt werden und in der Praxis überall da auch genutzt werden, wo Sie die Teilhabechancen im Kontext von Alter, Pfle­ge und Behinderung erhöhen und Fachkräfte entlasten.

Eine Vision von CareTech OWL ist die Einrichtung von CareTechHUBs. Dabei handelt es sich um neuartige Gesundheitszentren in Ostwestfalen-Lippe, in denen Akteure aus Versorgung, Wissenschaft und Wirtschaft gezielt zusam­menarbeiten. Orte, an denen gute Gesundheitsversorgung mit der Erforschung, Entwicklung und Anwendung von neuen Technologien sowie mit einer praxiso­rientierten Bildung verbunden wird. Das langfristige Ziel: Technologien sorgen für breite gesellschaftliche Teilhabe und Wohlergehen der Menschen in OWL. Die Zusammenarbeit mit dem GesundZentrum ist ein erster Schritt in diese Richtung.

Veröffentlicht von

WIR Redaktion

Die WIR-Redaktion freut sich auch auf Ihre Pressemitteilungen. Sprechen Sie uns an unter +49 5231 98100 0 oder per mail an redaktion@wirtschaft-regional.net

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.