Ariane Rolf arbeitet im Skills Lab an der HSBI. Sie hilft Student Jerome Sievers im Alterssimulationsanzug die Treppe herunter. (Foto: P. Pollmeier/HSBI)
Ariane Rolf arbeitet im Skills Lab an der HSBI. Sie hilft Student Jerome Sievers im Alterssimulationsanzug die Treppe herunter. (Foto: P. Pollmeier/HSBI)

12. Mai ist Internationaler Tag der Pflege:

Mit einem Simulationsanzug erleben HSBI-Studierende die Tücken des Alters

Bielefeld – Wie fühlt sich das Leben mit 75 Jahren an? Wenn der Rücken zieht, die Gelenke schmerzen und die Sehkraft nachlässt? Das können Pflegestudierende der Hochschule Bielefeld am eigenen Leib erfahren. Mit einem Alterssimulationsanzug erleben sie, welche Hürden der Alltag bietet, wenn der Körper gebrechlich wird. Der Selbstversuch ist fester Bestandteil des Pflegestudiums am Fachbereich Gesundheit und sensibilisiert für die Bedürfnisse älterer Menschen – eine Zeitreise in die eigene Zukunft.

Links, rechts, links – Student Jerome Sievers schlurft den Flur entlang. Die Füße des 21-Jährigen schleifen über den Boden. Sievers trägt einen Alterssimulationsanzug und erfährt so am eigenen Leib, wie sich Menschen mit 75 Jahren fühlen können. Wenn man in der Bewegung stark eingeschränkt ist, kann der Alltag zur Mammutaufgabe werden.

Damit er sich wie ein Mann Mitte 70 fühlen kann, hilft ihm seine Kommilitonin Erika Reiswich in den Anzug. Die Verwandlung beginnt langsam: Mit den Schuhen gleitet Sievers in Überschuhe. Die unförmige Sohle weicht den festen Stand auf und sorgt für einen unsicheren Gang. Zusätzliche Gewichte an den Knöcheln beschweren seine Beine. Es folgen Knie- und Ellenbogenschoner, die jede Bewegung einschränken. Als Nächstes hebt die Studentin des Studiengangs Pflege eine schwere Weste über Sievers Kopf. Auf seinen Schultern lasten die Kilos schwer. Handschuhe und eine Halskrause beengen zusätzlich: Sievers ist um 25 Kilo schwerer und fünf Jahrzehnte älter. Ariane Rolf, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Skills Lab der Hochschule Bielefeld (HSBI) öffnet einen schwarzen Koffer und fragt den Studenten: „Welche darf es sein?“ Im Koffer befinden sich Brillen, die Augenerkrankungen simulieren. Sievers entscheidet sich für die diabetische Retinophatie: Die Krankheit befällt die Netzhaut und sorgt für eine stark eingeschränkte Sicht mit dunklen Flecken. Die Verwandlung in einen alten gebrechlichen Mann wird durch schalldämpfende Ohrenschützer komplett. 

„Ob das Ergebnis ohne Sehschwäche besser geworden wäre, weiß ich nicht.“

Sievers bewegt sich langsam zum Tisch und nimmt Platz. „Herr Sievers, Sie müssen das Mittagessen vorbereiten. Heute gibt es Kartoffeln“, sagt Deborah Damkröger, die ebenfalls am Skills Lab tätig ist. Sie legt ihm das Messer in die Hand und spricht lauter. Der Student tastet den Teller ab und beginnt. Es vergehen einige Minuten, dann legt er die Kartoffel hin. Sievers nimmt die Brille ab und schaut sich sein Ergebnis an: „Ich habe fast nichts gesehen und nach Gefühl geschält. Kein Wunder, dass noch Schale dran ist. Ob das Ergebnis ohne Sehschwäche besser geworden wäre, ist allerdings fraglich“, scherzt der Student. „Es wird klar, wie anstrengend Kochen für ältere Menschen ist“, sagt Ariane Rolf. Die gelernte Altenpflegerin erklärt, warum die Selbsterfahrung wichtig ist: „Pflegestudierende müssen ein Gespür für die Probleme älterer Menschen entwickeln. Die praktischen Übungen mit dem Anzug sind eine wichtige Ergänzung zum theoretischen Wissen.“ So wird deutlich, warum alte Menschen vermehrt Pausen einlegen und für Aufgaben langsamer erledigen.

Als Nächstes soll Sievers ein Formular lesen und unterschreiben. Die simple Alltagsaufgabe wird für den Studenten im Alterssimulationsanzug zur Herausforderung. Er nimmt das Papier in beide Hände und hält es sich dicht vor die Augen. Es vergehen einige Augenblicke, ehe er schließlich aufgibt und seine Unterschrift auf das Papier bringt. Was genau er da unterschrieben hat, weiß er nicht. Abschließend führt Ariane Rolf den gealterten Studenten noch ins Treppenhaus. Mit steifen Gelenken und schweren Gliedmaßen werden schon ein paar Stufen zu einem schier unüberwindbaren Hindernis. „Die Beine sind durch die Gewichte und die Manschette unbeweglicher“, berichtet Sievers. „Aber noch schlimmer ist das eingeschränkte Sehvermögen. Ich bekomme nichts von der Umgebung mit.“ 

„Es fehlt ein riesiges Stück Lebensqualität“

Jetzt ist Studentin Erika Reiswich dran. Altenpflegerin Rolf gibt ihr eine Geldbörse und schildert folgendes Szenario: „Sie sind beim Bäcker und müssen 1,44 Euro für Ihr Brötchen zahlen.“ Reiswich nimmt die Geldbörse schwerfällig in die steife Hand und holt einzelne Münzen heraus. Weil sie die Geldstücke nicht genau erkennen kann, behilft sie sich damit, sie abzutasten. Nach mehreren Versuchen zieht sie eine 2-Euro-Münze heraus: „Ich glaube, das sind 2 Euro. Ich bezahle damit. Da mache ich es mir einfach“, sagt die Studentin. Auch für Reiswich sind vor allem die Augenerkrankung und das schlechte Hören besondere Hürden. „Es fehlt ein riesiges Stück Lebensqualität“, sagt die 21-Jährige. Für ältere Menschen, die an der Kasse mehr Zeit benötigen, will sie in Zukunft mehr Verständnis haben.

Die Studierenden sind sich einig: Das beschränkte Sehvermögen ist für alle am schlimmsten. „Es fühlt sich an, als sei man nicht mehr Teil der Umgebung“, sagt Studentin Reiswich. Doch beinahe alle Menschen erleben im Alter eine Verschlechterung der Sehkraft. Das Bewusstsein dafür kann Scham und Frustration auslösen und Alltagssituationen bergen plötzlich Gefahren. Die Folge: Ältere Menschen bleiben vermehrt zu Hause in vertrauter Umgebung. Doch auch hier lauern Gefahren. „Wer die Füße nicht richtig anhebt, kann über die Teppichkante stolpern. Solche Gefahrenquellen übersieht man schnell“, erklärt Sievers.

Das Alter erleben und verstehen ­­– Der Schlüssel für gut ausgebildetes Pflegepersonal

Deborah Damkröger ist vom Nutzen des Alterssimulationsanzugs überzeugt: „Mit dem Ausprobieren des Alterssimulationsanzugs erhöht sich das Verständnis für die Einschränkungen älterer Menschen.“ Auch das Feedback der Studierenden ist positiv. Der Anzug kommt vor allem im Modul „Im höheren und höchsten Lebensalter“ zum Einsatz und bietet den Studierenden die Möglichkeit, Arbeitsabläufe und Handgriffe zu üben. Zu diesem Zweck schlüpft ein Studierender in den Anzug, während die andere die Rolle der Pflegenden übernimmt. Typische Fehler können in solchen Übungen korrigiert werden. Bevor es also in die Praxis, sprich in Pflegeheime, Krankenhäuser oder ambulante Pflegeeinrichtungen geht, üben die Studierenden im Skills Lab.

Die Räume im Skills Lab sind mit Pflegebetten ausgestattet oder wie eine Wohnung eingerichtet. So lässt sich praxisnah ausprobieren, welches Hilfsangebot für welche Klientel in Frage kommt. Ariane Rolf: „Jeder Mensch ist anders und jeder Bedarf auch. Wir müssen uns als Pflegende immer individuell auf die Klientel einstellen. Es ist gut, wenn wir wissen, wie sie sich fühlen und welche Bedürfnisse sie haben“.

Über die Hochschule Bielefeld (HSBI)

Die „Hochschule Bielefeld (HSBI)“, bis 19. April dieses Jahres Fachhochschule Bielefeld, ist mit mehr als 10.500 Studierenden die größte Hochschule für Ange­wandte Wissenschaften in OWL. Sie besitzt Standorte in Bielefeld, Minden und Gütersloh. Das Angebot der sechs Fachbereiche umfasst 75 Studiengänge und reicht von BWL und Ingenieurwissenschaften über Gestaltung, Architektur und Bauwesen bis hin zu Sozialer Arbeit, Pädagogik der Kindheit, Pflege und Heb­ammenwissenschaft. Studieren kann man klassisch in Vollzeit, praxisintegriert mit Anstellung (und Bezahlung!) in einem Unternehmen oder berufsbegleitend abends und am Wochenende. Die HSBI kooperiert mit 350 Unternehmen in OWL und darüber hinaus und ist international mit mehr als 150 Hochschulen vernetzt.

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WIR Redaktion

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