Melina Gurcke, 27, und Katharina Schnatmann, 24, und haben beide Regenerative Energien im Bachelor und im Master Elektrotechnik mit dem Schwerpunkt Intelligente Energiesysteme an der HSBI studiert. (Foto: P. Pollmeier/HSBI)
Melina Gurcke, 27, und Katharina Schnatmann, 24, und haben beide Regenerative Energien im Bachelor und im Master Elektrotechnik mit dem Schwerpunkt Intelligente Energiesysteme an der HSBI studiert. (Foto: P. Pollmeier/HSBI)

Zum Weltrecyclingtag am 18. März: HSBI-Forschende beschäftigen sich im Transferprojekt InCamS@BI mit zirkulärer Wertschöpfung

Bielefeld – Recycling ist wichtig für Ressourcen- und Klimaschutz, aber gleichzeitig nur eine von vielen Stellschrauben auf dem Weg zu einer nachhaltigen Produktion und einer zirkulären Wertschöpfung. HSBI-Forschende aus dem Transferprojekt InCamS@BI treffen sich im Labor der Kunststoffanalytik und erörtern verschiedene Strategien. Zentral dabei: Den Punkt im Lebenszyklus von Produkten herausfinden, der die meisten Ressourcen verbraucht und genau dort ansetzen.

„Kunststoffe werden oft als Problem dargestellt – aber ohne kommen wir nicht aus, schließlich sind Anwendungen aus Kunststoffen für viele Probleme die Lösung. Dafür sind sauberes Trinkwasser aus PET-Flaschen oder steril in Kunststoff verpackte Medizinprodukte nur zwei Beispiele. Was wir ändern müssen, ist unser Umgang mit Kunststoffen“, erklärt Dr. Matthias Pieper, während er ein Stück Stoff zerschneidet und eine Probe davon in ein Infrarotspektrometer einspannt. Der Chemiker ist Technologiescout in InCamS@BI, dem Innovation Campus for Sustainable Solutions, einem Transferprojekt von Hochschule Bielefeld (HSBI) und Universität Bielefeld. Mit seinen Kolleginnen Katharina Schnatmann und Melina Gurcke spricht er anlässlich des Weltrecyclingtags über Recycling und weitere Strategien, die für eine nachhaltige Produktion und eine zirkuläre Wertschöpfung unerlässlich sind. In InCamS@BI arbeiten insgesamt sieben Forschungsgruppen daran, Ideen für eine Kreislaufwirtschaft der Kunststoffe zu entwickeln. „In unserer Forschungsgruppe Kunststoffanalytik und Werkstoffprüfung analysieren wir die Verarbeitung und physikalischen Eigenschaften von Kunststoffen, denn nur wenn diese passen, können Rezyklate – also recycelte Kunststoffe – ein hochwertiger Ersatz für Neuware sein“, so Pieper. Welche Methoden die Kunststofftechniker nutzen, zeigt er heute im HSBI-Labor für Kunststoffanalytik.

Recycling ist eine Frage der Qualität
Der Weltrecyclingtag wurde erstmals 2018 von der Global Recycling Foundation ausgerufen. Seitdem wird der 18. März jährlich genutzt, um weltweit darauf aufmerksam zu machen, dass Recycling unerlässlich für den Ressourcen- und Klimaschutz ist. Laut der Stiftung können durch Recycling jährlich weltweit über 700 Millionen Tonnen CO2-Emissionen eingespart, Arbeitsplätze geschaffen sowie unsere natürlichen Ressourcen Wasser, Luft, Öl, Erdgas, Kohle und Mineralien geschützt werden.

Effektives Recycling ist jedoch eine Frage der Qualität: „Um sinnvolles Recycling betreiben zu können, braucht es vorher eine gute Logistik, also eine sortenreine Trennung der gemischten Kunststoffabfälle“, sagt Katharina Schnatmann, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der HSBI. „Die ist häufig nur beim Post-Industrial-Material gegeben, also bei den Materialüberschüssen und Abfallmaterialien während der Produktion. Da weiß das Unternehmen natürlich, um welchen Kunststoff es sich handelt, es gibt noch keine Abnutzungsspuren, Alterung des Materials etc. Ein Recycling dieses Materials ist also sehr effektiv. Aber der Inhalt des Gelben Sacks oder der Wertstofftonne, auch Post-Consumer-Material genannt, ist oft schwer ordentlich zu trennen, da viele Produkte aus Verbundstoffen bestehen – es kommen sehr unterschiedliche Zusammensetzungen und Qualitäten zusammen.“ Aus dem Gelben Sack kann dementsprechend nicht alles recycelt werden: Laut Umweltbundesamt lag die tatsächlich erreichte Zuführungsquote zur werkstofflichen Wiederverwertung von Kunststoffverpackungen im Jahr 2022 bei 67,5 Prozent. Da die Qualität meist deutlich schlechter als die der Ausgangsstoffe ist, spricht man hier von Downcycling. Es handelt sich also eher um eine Abwärtsspirale als um einen Kreislauf, denn: Nach mehrmaligem Recycling sind die Kunststoffe oft nur noch thermisch verwertbar. Mit anderen Worten: Sie werden verbrannt, um Fernwärme zu erzeugen oder Energie für Zementwerke zu liefern.

Recycling verändert die Eigenschaften des Materials
Die drei Technologiescouts Pieper, Schnatmann und Gurcke beobachten, wie das Spektrometer kurz summt und nur Sekunden später auf dem Bildschirm ein Kurvendiagramm erscheint. Pieper selbst ist Chemiker und erläutert seinen Kolleginnen, die beide Elektrotechnikerinnen sind, die Ergebnisse: Bei der roten Stoffprobe handelt es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um Polyethylenterephthalat, kurz PET, das Material aus dem Flaschen, Folien und Textilfasern hergestellt werden. Die Probe des Stoffs kommt vom Bielefelder Textilhersteller fast52, der mit InCamS@BI gemeinsam daran arbeitet, seine Materialien künftig kreislauffähig zu gestalten. Für fast52 ist es zentral, Textilreste und Rückläufer zu recyceln. Dafür muss man die Eigenschaften des Materials aber genau kennen. „Eine hundertprozentige Sicherheit haben wir mit einer einzelnen Methode in der Regel nicht – die Analytik ist sehr aufwendig“, berichtet Pieper und fügt schmunzelnd hinzu: „Was man aus Fernsehsendungen wie CSI Miami kennt, funktioniert in der Wirklichkeit leider nicht: Es ist nicht möglich, eine Probe an nur einem Gerät zu untersuchen und sofort zu wissen, um welches Material es sich handelt und wo das Produkt herkommt. Damit das funktioniert, bräuchten wir einen digitalen Produktpass.“ Ein solcher Pass könnte eine Grundlage für maßgeschneidertes Recycling sein und ist eine der Ideen, die im Projekt Smart Recycling Factory verfolgt werden.

Weiter geht es zur nächsten Station, der thermogravimetrischen Analyse. Mit einem Brenner reinigt Matthias Pieper den winzigen Probenbehälter, einen Tiegel. Nachdem dieser ausgebrannt ist und damit frei von Rückständen, kann die Probe – wieder ein kleines Stück des Stoffes – mit einer Pinzette im Tiegel platziert werden. Der Tiegel selbst sieht aus wie ein winziger Korb, der anschließend mechanisch an einen Haken gehängt wird, bevor er in einem kleinen Ofen auf 750 Grad Celsius hochheizt. Die Probe wird jetzt vollständig verbrannt, und das Gerät misst den Massenverlust. Der wiederum verrät dem Wissenschaftler, bei welcher Temperatur niedermolekulare Verbindungen verdampfen oder Abbaureaktionen stattfinden. „Was wir mit dieser Methode auch sehen können, ist, ob Hilfsstoffe wie Glasfasern in dem Kunststoff verarbeitet sind, weil diese nach der Verbrennung übrig bleiben“, sagt Pieper. Eine weitere Hürde, die das Recycling erschweren kann.

Die drei wechseln jetzt zur letzten Station in diesem Labor: der Dynamischen Differenzkalorimetrie. Hier erfahren die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern mehr über Temperaturfenster, in denen physikalische und chemische Prozesse stattfinden, die Energie benötigen oder freisetzen. Damit können für die Untersuchung wichtige Kenngrößen wie die Glasübergangs- und Schmelztemperatur der Kunststoffprobe bestimmt werden.

Was sich in allen Analysen zeigt: Jedes Recycling verändert die Eigenschaften der Kunststoffe. Mechanisches Recycling oder thermische Belastungen wie Einschmelzen oder Zusammenmischen mit Additiven verkürzen die langen Polymerketten, aus denen Kunststoffe bestehen, wodurch sich die Verarbeitungstemperaturen oder die Viskosität ändern. Auch mechanische Kennwerte wie Zugfestigkeit oder Schlagzähigkeit ändern sich. All diese Eigenschaften sind jedoch enorm wichtig für die verschiedenen Produktionsprozesse.

R-Strategien für eine nachhaltige Produktgestaltung
In InCamS@BI werden neben dem Recycling jedoch noch weitere Ansätze, sogenannte R-Strategien, betrachtet, mit denen Produkte nachhaltiger gestaltet werden können. Um die Strategien anhand von konkreten Gegenständen zu erörtern, geht die Gruppe in ein Büro der InCamS@BI-Forschungsgruppe Zirkuläre Wertschöpfung, die im ITES, dem HSBI-Institut für Technische Energie-Systeme, angesiedelt ist. Mit Zirkulärer Wertschöpfung (auch Circular Economy oder Kreislaufwirtschaft genannt, siehe Infokasten) setzen sich Melina Gurcke und Katharina Schnatmann nämlich tagtäglich auseinander. Die „R-Strategien“ sind Folgende: Refuse (Verzicht), Rethink (Überdenken), Reduce (Reduktion), Replace (Ersatz), Reuse (Wiederverwendung), Repair (Reparatur), Refurbish (Instandsetzung), Remanufacture (Aufarbeitung), Repurpose (Umnutzung), Recycle (Recycling) und Recover (energetische Verwertung).

Doch was leisten diese Strategien im Einzelfall? Woher weiß man, welche man anwenden sollte? Katharina Schnatmann erklärt: „Wir schauen uns das ganze Leben eines Kunststoffproduktes an und unterteilen hier in drei Phasen: In der Produktion beziehungsweise im Designprozess kommt es darauf an, ein Produkt bzw. Teile eines Produkts entweder verzichtbar zu machen, sie so zu konzipieren, dass sie klüger genutzt werden können oder sie intelligenter herzustellen: Refuse, Rethink, Reduce, Replace. Die Nutzungsphase von Produkten oder von einzelnen Bestandteilen kann man entweder verlängern oder ihren Impact auf die Umwelt verringern: Reuse, Repair, Refurbish, Remanufacture, Reurpose. Und am Produktlebensende sollte man sich Gedanken darüber machen, wie die einzelnen Materialien sinnvoll wiederverwendet oder zumindest energetisch verwertet werden können: Recycle oder Recover. Dabei gilt, je früher im Leben eines Produktes angesetzt wird, desto mehr Energie und Rohstoffe können schlussendlich eingespart werden.“

Auf dem Tisch zwischen den drei InCamS@BI-Mitarbeitenden liegen verschiedene Gegenstände, die teilweise oder vollständig aus Kunststoff bestehen. Die Gruppe schaut sich die Gegenstände unter dem Gesichtspunkt des Energieverbrauchs an: ein kleines Plastiktütchen, ein Wasserkocher, eine Wasserflasche, ein Multimeter und eine Crimpzange. Die Produkte gehören unterschiedlichen Kategorien an: Einwegprodukte wie das Tütchen oder die PET-Flasche haben eine sehr kurze Nutzungsdauer. Die langlebigen Produkte kann man auch nochmal unterteilen: Die Zange hat einen geringen negativen Einfluss auf die Umwelt, weil sie nur in der Produktion Energie kostet, danach aber lange genutzt werden kann. Ein Wasserkocher dagegen verbraucht die meiste Energie während seiner Nutzungsphase und hat damit einen hohen negativen Impact.

„Besonders gut sind langlebige Produkte mit einem positiven Impact wie zum Beispiel Photovoltaik-Module. Sie kosten Energie bei der Produktion, danach erzeugen sie jedoch deutlich mehr – bis zu ihrem Lebensende. Trotzdem ist es auch hier wichtig, etwaige Probleme, die am Ende ihres Lebens auftauchen könnten, bereits bei der Entwicklung mitzudenken“, berichtet Katharina Schnatmann.

Unternehmen müssen anfangen, im Kreislauf zu denken
Das Ziel der Wissenschaftlerinnen ist es, Unternehmen zum Umdenken anzuregen: „Recycling ist in den wenigsten Fällen die beste Lösung – meist kostet es sehr viel Energie und führt zu Rezyklat von schlechterer Qualität, das ‚nur‘ noch in die Produktion von zum Beispiel Blumentöpfen oder Kunstrasenplätzen eingebracht werden kann“, so Gurcke, deren Schwerpunkt auf der Energietechnik in der zirkulären Wertschöpfung liegt. „Ein Unternehmen, das Produkte herstellt – und das bezieht sich nicht nur auf kunststoffverarbeitende Betriebe – muss sich immer die Frage stellen, in welcher Lebensphase das Produkt die meisten Ressourcen verbraucht. Zu Beginn in der Produktion? Während der Nutzung? Oder am Lebensende durch das Recycling? Und an genau dem Punkt, an dem die meisten Ressourcen aufgewendet werden müssen, sollte man ansetzen. Recycling kann auch nur dann nachhaltig sein, wenn das Verfahren effizient ist und die Energie, die dafür aufgewendet wird, regenerativ erzeugt wird.“ Dafür sind die R-Strategien eine gute Basis.

Pieper nimmt das Multimeter, ein Messgerät für elektrische Größen, in die Hand, dreht und wendet es. Das Gehäuse und die Kabelummantelung sind aus Kunststoff. Welche Strategien könnten hier angewendet werden? Seine Kollegin Schnatmann ordnet ein: „So ein Gerät hat grundsätzlich eine sehr lange Lebensdauer. Bis es kaputtgeht, vergehen Jahre oder sogar Jahrzehnte. Hersteller können hier ansetzen, und das Multimeter so designen, dass schnell verschleißende Teile wie Druckknöpfe oder Tasten leicht ausgetauscht und das Gerät immer wieder repariert werden kann. Auch völlig neue Systeme wie Sharing-Werkzeuge könnte man überlegen – dann würde die Nutzung der Tools intensiviert werden.“ Der Chemiker schlägt vor: „Auch die Wahl der Kunststoffe in der Produktion könnte überdacht werden, um das Recycling am Lebensende des Produkts zu verbessern – müssen es fünf verschiedene sein oder würden zwei Arten reichen? Das wäre dann die Rethink-Strategie.“ Ganz gleich, welche der R-Strategien angewendet wird – alle diese Wege führen in der zirkulären Wertschöpfung zu einem nachhaltigeren Produkt.

Ein Wirtschaftssystem, das auf Werterhalt basiert
In ihrer Diskussion kommen Pieper, Gurcke und Schnatmann auch immer wieder auf die Gesetzgebung zu sprechen: Es fehlt zum Beispiel an verbindlichen Vorgaben und Normen. Das Kreislaufwirtschaftsgesetz regelt in erster Linie Abfall. Es besteht jedoch Hoffnung, dass die Nationale Kreislaufwirtschaftsstrategie der Bundesregierung einen ganzheitlicheren Ansatz verfolgt.

Im Grunde genommen geht es immer um eines: Werterhalt. Für eine wirklich zirkuläre Wertschöpfung braucht es dieses Umdenken jedoch nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch in der Politik und bei Verbraucherinnen und Verbrauchern. Denn diese Transformation zu einem neuen Wirtschaftssystem schafft unsere Gesellschaft nur gemeinsam.

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WIR Redaktion

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