In Gruppen haben die Studierenden ihre Werke entworfen: Am Anfang gab es ganz viele Post-its. (Foto: P. Pollmeier/HSBI)
In Gruppen haben die Studierenden ihre Werke entworfen: Am Anfang gab es ganz viele Post-its. (Foto: P. Pollmeier/HSBI)

HSBI-Studierende erzählen in Comics von den alltäglichen Herausforderungen der Sozialen Arbeit in Krankenhäusern

Bielefeld – In Deutschland ist es gesetzlich vorgeschrieben, dass Krankenhäuser einen Sozialdienst vorhalten, durch den im besten Fall Fachkräfte Sozialer Arbeit die Patientinnen und Patienten beraten und begleiten. Ein aktuelles Forschungsprojekt der HSBI hat sichtbar gemacht, dass die Situation der Sozialen Arbeit in Krankenhäusern, insbesondere während und nach der Covid-19-Pandemie, von besonderen Herausforderungen gekennzeichnet ist.

Das haben nun Studierende der Fachbereiche Sozialwesen und Gestaltung in einem interdisziplinären Seminar auf ungewöhnliche Weise thematisiert: In Comics, auf Plakaten und mit Videoinstallationen stellen sie die alltägliche Praxis der Sozialen Arbeit im Krankenhaus dar und machen auf ihre Leistungen und Probleme aufmerksam.

Ein älterer Mann soll nach erfolgreicher OP wieder nach Hause entlassen werden. Erst allmählich findet eine Sozialarbeiterin des Krankenhauses in Gesprächen mit ihm heraus, inwieweit es jemanden gibt, der ihn daheim unterstützen kann bei der Einhaltung der körperlichen Hygiene, beim Putzen und der Ernährung. Szenenwechsel: Eine weitere Sozialarbeiterin bespricht mit einer Mitarbeiterin eines Pflegedienstes die Rückkehr einer alkoholerkrankten Patientin nach gerontopsychiatrischer Behandlung nach Hause. Im Telefonat berichtet sie von Stress auf der Arbeit und von ihrer Überlegung zu kündigen. Und noch eine Szene: Eine betagte Frau ist nach ihrer Behandlung im Krankenhaus sehr mitgenommen. Sie erzählt aber viel über die Menschen in ihrer Familie und in ihrem sozialen Umfeld. Die Sozialarbeiterin filtert in der Beratung mit großem Geschick heraus, wer im Leben der Patientin welche Bedeutung einnimmt und mit wem sie in Kontakt treten könnte, um die Heimkehr und Nachsorge der Frau zu organisieren.     

Interdisziplinäres Seminar „Von der Datenanalyse zur Graphic Novel“
Dies sind nur drei von acht alltäglichen Situationen aus der Krankenhaussozialarbeit, mit denen Studierendenteams der Fachbereiche Sozialwesen und Gestaltung an der Hochschule Bielefeld (HSBI) im vergangenen Wintersemester im Seminar „Von der Datenanalyse zur Graphic Novel“ gearbeitet haben. Die Szenerien zeichnen einen kleinen Ausschnitt der Sozialen Arbeit in den Krankenhäusern von heute. Aus ihnen sind im Rahmen des Seminars unter anderem Plakate, Videos, Installationen und kleine Comics entstanden. Inhaltlich im Zentrum stehen Krankenhaussozialarbeiterinnen und -sozialarbeiter, ihre Berufspraxis mit Patientinnen und Patienten, deren Angehörigen, sowie das sogenannte „Entlassmanagement“.

Der Untertitel des Seminars von Prof. Dr. Anna Lena Rademaker vom Fachbereich Sozialwesen lautete „Wie gelingt intermediale Wissenschaftskommunikation?“ Einerseits sollten die Studierende mithilfe der Sequenzanalyse, einer qualitativen Methode empirischer Sozialforschung, herausbekommen, welche Erkenntnisse sich über die Fallarbeit im Berufsalltag Sozialarbeitender gewinnen lassen. Hierbei betrachten die Studierenden u.a. die interdisziplinäre Zusammenarbeitet zwischen der Sozialen Arbeit, der Pflege und der Medizin. Andererseits aber ging es auch darum, dass die Teams ausprobierten, wie die Vermittlung der gewonnenen Erkenntnisse für die allgemeine Öffentlichkeit funktionieren könnte, wenn man sich erzählerisch und bildsprachlich am Vorbild der Graphic Novel orientiert.

Ethnografische Protokolle Sozialarbeitender und Sequenzanalyse aus dem Projekt postCOVID@owl bilden den Ausgangspunkt
Die eingangs verkürzt wiedergegebenen Szenen stammten aus ethnografischen Forschungsprotokollen, in denen Krankenhaussozialarbeiterinnen Gespräche und Begegnungen mit Patientinnen und Patienten sowie vereinzelt auch mit Kolleginnen und Kollegen dokumentiert haben. Diese anonymisierten Texte sind unter der Leitung von Prof. Rademaker im Projekt postCOVID@owl in Kliniken aus OWL entstanden. Sie bildeten die Grundlage für die Arbeit der Studierenden im Seminar.

Getreu der Methodik der Sequenzanalyse war es zunächst das Ziel herauszufinden, welche Perspektiven in den Texten erkennbar, welche Regeln, Abläufe und Routinen sichtbar werden. Danach stellte sich u.a. die Aufgabe, diese Perspektiven mithilfe gestalterischer Methoden zu visualisieren. Dabei konnten die Studierenden mehr über den Gegenstand der Texte erfahren, indem sie in einem kreativen Prozess Textinterpretation und Gestaltung miteinander verbunden haben. Neben Rademaker betreute deshalb Lucia Thiede vom Fachbereich Gestaltung als Expertin für gestalterische Forschung das Seminar, und Rademaker holte als weitere Verstärkung den erfahrenen Berliner Comiczeichner Marwil für einen Workshop mit ins Team.

Am Ende des Semesters wurden die so entstandenen „Arts-informed-research“-Arbeiten präsentiert, und die Studierenden reflektierten gemeinsam den Prozess der Analyse und der „Übersetzung“ in die präsentierten Werke. Die Studierenden bewerteten den Einsatz der Sequenzanalyse positiv, weil diese tatsächlich „zu gedanklichen Experimenten anregte“, so eine der teilnehmenden Studierenden. Eine weitere Studierende erläuterte: „Die Bilder in unseren Köpfen, die wir über die Analyse der Texte im Seminar über die Soziale Arbeit im Krankenhaus entwickelt hatten, wurden im wahrsten Sinne des Wortes dargestellt, aber auch immer wieder infrage gestellt.“ Die Lehrbeauftragte Lucia Thiede vom Fachbereich Gestaltung war begeistert, wie die Studierenden Woche für Woche eine neue Perspektive auf die Protokolle eingenommen haben und wie sich daraus Schritt für Schritt acht eigene Erzählungen entwickelten. „Auf diesem Wege wurden wiederkehrende, von den Einzelfällen unabhängige Strukturen sichtbar gemacht“, so Thiede.

„Wunsch nach Urlaub und Erholung“, jede Menge „soziale Bezüge“ und „herausfordernde Realitäten“
Der Charme der Comics, Plakate und Graphic Novels, die so entstanden, lag auch darin, dass durch die medienbedingte Fokussierung auf einzelne Aspekte aus den Forschungsprotokollen Phänomene der Sozialen Arbeit sehr pointiert hervortraten. In einem Comicstrip wurde der Wunsch einer Sozialarbeiterin nach Urlaub und Erholung nach der anstrengenden Zeit auf einer Covid-19-Isolierungsstation thematisiert. Ein anderes Team gestaltete ein Plakat und skizzierte darauf das komplexe soziale und familiäre Umfeld der eingangs erwähnten Patientin wie in einer Netzwerkkarte. Ein Video wiederum machte sichtbar, wie komplex die Organisation der pflegerischen Unterstützung von Patientinnen und Patienten sein kann. Das geschah unter anderem, indem ein Essenstablett am Patientenbett verschiedene „Bühnen“ der Erzählung des Falls repräsentierte.

Die Gespräche, das gemeinsame Reflektieren und die kreative Umsetzung machten den Studierenden sichtlich Spaß. Die Arbeiten mit ihren unterschiedlichen gestalterischen Techniken ergaben in ihrer Gesamtheit ein Bild, das mit einer gewissen Leichtigkeit, Poesie und stellenweise auch mit Humor die mitunter kritische Situation der Sozialen Arbeit in den Krankenhäusern beleuchtete und den Protagonistinnen und Protagonisten eine Stimme gab. Allerdings betonte ein Studierender bei der Abschlussveranstaltung des Seminars, dürfe das nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich unterm Strich aus den Forschungsprotokollen ein fragwürdiges Bild von der Situation in den Krankenhäusern herauslesen lasse: „Sichtbar wurden ziemlich traurige Realitäten. Die Sozialarbeitenden sind mit den Fallzahlen überlastet, und durch die Vorgaben und Rahmenbedingungen im Krankenhaus ist es total herausfordernd für sie, patientenorientiert zu handeln.“

Soziale Arbeit im Krankenhaus nimmt zunehmend Bedeutung an – Ausstellung geplant
Das kann Anna Lena Rademaker bestätigen: „Wir haben seit vielen Jahren ein wirtschaftlich gesteuertes Gesundheitssystem, das auf ein möglichst effizientes Entlassmanagement in den Krankenhäusern ausgerichtet ist. Die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter befinden sich damit im Spannungsfeld von Anforderungen und Rahmenbedingungen der Institution Krankenhaus und dem professionellen Auftrag Sozialer Arbeit, Teilhabe trotz gesundheitlicher Beeinträchtigung zu ermöglichen. Sie fühlen sich hin- und hergerissen, als Verbindungsglied zwischen Fallkomplexität, Bedarfen der Patientinnen und Patienten, deren Angehörigen, den Pandemiefolgen und den Anforderungen des Krankenhauses.“ In Rademakers Forschungsprojekt wird deutlich, dass die Soziale Arbeit im Krankenhaus noch wichtiger geworden ist. Sie begründet dies mit dem mit multiplen Krisen einhergehendem gesellschaftlichen Wandel. Armut, gesundheitliche Ungleichheit, Migration, Wirtschaftskrisen, Fachkräftemangel und viele weitere Entwicklungen heutiger Zeit würden im Krankenhaus zusammenprallen und müssten von dem ohnehin überlasteten System und dem Personal abgefangen werden. „Damit Professionalisierung von Sozialer Arbeit im Krankenhaus gelingen kann, braucht es in erster Linie gesetzliche Grundlagen zur Personalausstattung im Sozialdienst und klare Qualifikationsprofile“, so Rademaker. „Darüber hinaus ist Soziale Arbeit im Krankenhaus eine hoch professionelle Praxis. Es fehlt ihr jedoch noch immer an Wahrnehmung und Akzeptanz. Hierzu trägt insbesondere Vertrauen in die eigene Professionalität und ein sicheres Auftreten sowie Akzeptanz und Vertrauen anderer in die Professionalität Sozialer Arbeit bei.“

Auch um auf diese Situation aufmerksam zu machen und der Sozialen Arbeit im Krankenhaus eine Stimme zu geben, möchten Anna Lena Rademaker und Lucia Thiede mit den Studierenden zum Beginn des Sommersemesters 2024 die Arbeiten aus dem Seminar öffentlich in der Magistrale des HSBI-Hauptgebäudes ausstellen. Rademaker: „Viel zu oft verbleiben Erkenntnisse in der wissenschaftlichen Community. Die Ergebnisse der Studie postCOVID@owl, in der ein Team an der HSBI mit Fachkräften Sozialer Arbeit aus Kliniken in OWL im partizipativen Forschungsprozess die aktuelle Situation der Sozialen Arbeit in den Krankenhäusern analysiert hat, könnten mithilfe der kreativen Arbeiten der Studierenden einer breiten Öffentlichkeit nahegebracht werden. Auch das war ja ein Ziel unseres Seminars.“ Und weil die Resonanz der Studierenden aus den Fachbereichen Sozialwesen und Gestaltung so groß war, wollen sie das Seminar im nächsten Semester erneut anbieten. 

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WIR Redaktion

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