Sozialpädagoge Dr. Mahmut Koyun (Foto: Martina Bauer)
Sozialpädagoge Dr. Mahmut Koyun (Foto: Martina Bauer)

Sanierung des Schulsystems gefordert

Sozialpädagoge Dr. Mahmut Koyun zur hohen Zahl junger Menschen mit Schulproblemen

Bielefeld/Ostwestfalen-Lippe – Das Schulsystem verursacht soziale Benachteiligung und Bildungsungleichheit. Allein in der Stadt Bielefeld gab es im Schuljahr 2020/21 unter 3.930 Schülerinnen und Schülern, die nach der Regelschulzeit abgegangen sind, 225 ohne jeglichen Abschluss. Das bedürfe der Aufmerksamkeit einer breiten Öffentlichkeit und müsse in den Fokus der Bildungsforschung gerückt werden, mit besonderem Augenmerk auf Kinder und Jugendliche aus Migrationsfamilien. Das fordert der sozialpädagogische Unternehmer und promovierte Erziehungswissenschaftler Dr. Mahmut Koyun.

In der Stadt wie der Region verzeichnet der 50-jährige seit Jahren zunehmend Schülerinnen und Schüler aus Familien mit Flucht- und Einwanderungsgeschichte, die auffallend Probleme haben. Seit 2009 unterstützt er Kinder und Jugendliche aus bildungsfernen und sozial benachteiligten Migrantenfamilien in Bielefeld und Ostwestfalen-Lippe (OWL), über sein Unternehmen IntegraPlus – Ambulante Familiendienste. Derzeit betreut sein siebenköpfiges, multikulturelles Fachkräfteteam zwölf Jugendliche pädagogisch.

Darunter ist der 16-jährige A., 2016 aus Syrien geflüchtet und heute in der 8. Klasse einer Förderschule. A. könne sich nicht konzentrieren, sei ungeduldig und hektisch. „Er stammt aus armen, bildungsfernen Verhältnissen, lebt in einem sozial belasteten Milieu, in einer engen Wohnung ohne Rückzugsort“, so Koyun, „in der Schule wird er häufig für sein Fehlverhalten sanktioniert, auch durch Ausschluss vom Unterricht. Dadurch wächst sein Lerndefizit.“ A. fühle sich von seinen Lehrern ,,immer ungerecht behandelt“, da er „den unterdrückenden Umgang von Lehrkräften und Behörden in der Heimat auf hiesige Verhältnisse projiziert. Durch die Fluchterfahrung haben solche Kinder oft keine Ruhe, keine Geduld und Ausdauer.“

Statistik belegt Ungleichheit

Für Nordrhein-Westfalen (NRW) verzeichnet IT.NRW (Landesbetrieb für Information und Technik NRW) 183.600 abgegangene Schülerinnen und Schüler im Schuljahr 2020/21, darunter 10.125 junge Menschen (165.305 Deutsche/18.295 Ausländer), die die Schule ohne einen Abschluss verlassen haben. Differenziert wird in ,,männlich“ und ,,weiblich“ sowie nach Staatsangehörigkeit („Deutsche“ und „Ausländer“), Kinder und Jugendliche mit deutschem Pass aus Einwanderungsfamilien sind nicht separat erfasst. In Bielefeld waren es zeitgleich 3.930 Schulabgängerinnen und -abgänger, darunter 225 junge Menschen (160 Deutsche/70 Ausländer), die die Schule ohne Abschluss verlassen haben. Rund die Hälfte ,,ohne Hauptschulabschluss“ haben Förderschulen besucht. Parallel gab es in der Stadt 185 Jugendliche mit Hauptschulabschluss (130 Deutsche/55 Ausländer) sowie 1.520 junge Erwachsene mit Abitur (1.455 Deutsche/60 Ausländer).

Die Bertelsmann Stiftung prangert in einer neuen Studie „im hohen Maße eine Vergeudung menschlicher Potenziale“ an: „Im Jahr 2021 verfehlten in Deutschland etwa 47.500 junge Menschen – 6,2 Prozent der entsprechenden Altersgruppe – den untersten Schulabschluss.“ 2020 seien Jungen in dieser Gruppe mit mehr als 60 Prozent überrepräsentiert, von den ausländischen Jugendlichen blieben 13,4 Prozent ohne Hauptschulabschluss, bei den Jugendlichen mit deutschem Pass „nur“ 4,6 Prozent. Für Dr. Mahmut Koyun keine Überraschung: „Die Tatsache, dass im Schulsystem Ungleichheit herrscht, wird in sozialwissenschaftlichen und bildungswissenschaftlichen Untersuchungen schon lange konstatiert“. Sowohl Lehrkräfte an Schulen als auch Eltern beklagten sich über mangelnde Unterstützung durch die Politik.

Heterogenere Probleme

Gesellschaftliche Veränderungsprozesse und ihre Erscheinungsformen – wie Integration, Inklusion und Teilhabe, kulturelle Vielfalt und Anerkennung, Bildung und Benachteiligung – forderten das Schulsystem seit Jahrzehnten heraus. „Damit werde ich bei meiner sozialpädagogischen Unterstützung der Familien täglich hautnah konfrontiert“, so der 50-Jährige. Die Schülerschaft an deutschen Schulen werde zunehmend heterogener, ebenso die Probleme und Lernpotenziale. In manchen Bielefelder Stadtteilen zeichne sich schon lange eine Entwicklung hin zu Migrantenschulen, Brennpunktschulen ab. Selbst Lehrerkollegien, die über Erfahrung mit Migrantenkindern verfügten, erreichten viele dieser Jungen und Mädchen nicht wirklich.

Der Anteil der Schulabbrecher und derer, die das schulische Ziel verfehlten, sei „immer noch deutlich zu hoch“. Koyuns Fazit nach langer Berufserfahrung: „Das Schulsystem steht sich selbst im Weg, indem es an althergebrachten Handlungsstrukturen festhält, durch die Migrantenkinder benachteiligt werden, und neue, zeitgemäße Ansätze, die auf Chancengleichheit abzielen, nicht organisatorisch verankert“.

Kinder mit Recht auf Bildung

Seine Feststellung: „Jedes Kind hat ein Recht auf Bildung und auf Förderung bei Lernproblemen“. Seine Forderungen: Die reflektierte, respektvolle und sensible Berücksichtigung von kulturellen und ethnischen Hintergründen von Kindern und Jugendlichen aus Migrationsfamilien durch Lehrkräfte; die zukunftsorientierte Ausrichtung von Schulen auf Vielfalt; Chancengleichheit durch Unterstützung und Fördermöglichkeiten für alle Schülerinnen und Schüler; kein Ausschluss vom Schulunterricht als Sanktionsmittel; statt eines „Aussortierens“ mit ,,Lernbehinderungsattest“ auf eine Förderschule: Ursachenforschung und pädagogische Unterstützung bei Leistungsdefiziten und Lernschwächen in der Regelschule.

Angesichts der erschreckend hohen Zahlen müssten Maßnahmen zum Abbau der Quote der vom Verfehlen des Hauptschulabschlusses betroffenen oder bedrohten Schülerinnen und Schüler eingeleitet werden, so die Bertelsmann Stiftung. Im Mittelpunkt aller Anstrengungen müssten Jungen sowie Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund stehen. In Regionen mit hohen Quoten gelte es den gemeinsamen Unterricht in einem inklusiven Schulsystem auszubauen, mit einer besseren Ressourcenausstattung für allgemeinbildende Schulen.

Qualifikatorische Vergeudung

Dies liege im Interesse der betroffenen jungen Menschen wie der wirtschaftlichen Entwicklung – gerade angesichts des anhaltenden Fachkräftemangels. Qualifikatorische Vergeudung könne sich Deutschland nicht leisten, so das Studienfazit. Dr. Mahmut Koyun wünscht sich mehr engagierte Lehrerinnen und Lehrer, die neben den Lernzielen Motivation und Lebensfreude vermitteln – und sieht ein besonderes Potenzial im Einsatz von schulischen Lehrkräften mit Migrationshintergrund.

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