Von Angst, Flucht und einer neuen Heimat

Von Angst, Flucht und einer neuen Heimat Friedland/Salzgitter (dapd-nrd). In Budapest brechen im Oktober 1956 Unruhen aus. Bürger erheben sich gegen die kommunistische Regierung und die sowjetische Besatzungsmacht. Der damals 14-jährige Ferenc Jovari bekommt in seinem Heimatort Körmend an der österreichischen Grenze nur Gerüchte davon mit. „Es wurde ja nicht richtig darüber berichtet“, sagt er. „Ab dem 5. November, einem Montag, gab es dann in den Geschäften nichts mehr zu kaufen“, erinnert er sich. In dem Jugendlichen reift der Gedanke, abzuhauen. „Ich wollte nach Deutschland.“ Ferenc Jovari ist einer von rund 6.700 Ungarn, die bis Jahresende 1956 in die Bundesrepublik flüchten. Für die meisten ist das Grenzdurchgangslager Friedland ihre erste Station. In einem Interview für das dort geplante Museum erinnert sich Jovari in Salzgitter vor der Kamera an die Flucht, das Leben im Lager und seine Integration. Die Geschichte des heute im rheinländischen Meckenheim lebenden Ungarnflüchtlings wird vom Verein „Unsere Geschichte. Das Gedächtnis der Nation“ aufgezeichnet. Geschichte aus persönlicher Perspektive Zusammen mit anderen Zeitzeugenberichten sollen die Erlebnisse in der Ausstellung in Friedland erzählt werden. Salzgitter ist die erste Station, bei der die Zeitzeugen von Redakteurin Sonja Lüning und ihren Kollegen in dem mobilen Aufnahmestudio „Jahrhundertbus“ interviewt werden. Schicksale der von 1945 bis heute zunächst im Grenzdurchgangslager Friedland Aufgenommenen will das Historiker-Team nachzeichnen – unter ihnen Kriegsheimkehrer, Flüchtlinge, Aussiedler und Spätaussiedler. „Lebenswege und Erinnerungen werden das Herzstück der Ausstellung im Museum Friedland sein“, betont der Projektleiter des niedersächsischen Innenministerium, Oliver Krüger. Der Verein, mit dem das Innenministerium für das Projekt kooperiert, wird die Interviews aber nicht nur für das Museum aufbereiten. Auch im Online-Archiv „Gedächtnis der Nation“, bei dem Zeitzeugen zu Alltagserfahrungen und zentralen Momenten der deutschen Geschichte befragt werden, solle ein Teil der Videos zugänglich gemacht werden, sagt Redakteurin Lüning. Zäsur noch immer präsent Lebhaft schildert Ferenc Jovari die Flucht über die ungarische Grenze. Die Nacht, die eine Zäsur in seinem Lebenslauf bedeutet, ist ihm noch immer in Details präsent: „Ich bin gerannt, gerannt, gerannt“, sagt er. Ein Grenzsoldat habe ihm plötzlich im Wald „Servus“ zugerufen. „Servus ist aber auch ungarisch“, betont der 70-Jährige. Das habe ihn irritiert. Glücklicherweise sei es aber doch ein Österreicher gewesen. Über Graz sei er mit dem Zug am Nikolausabend nach Friedland gekommen. Einquartiert in einer Blechbaracke habe er dort als Jüngster, der ohne Eltern kam, seine ersten Tage in Deutschland gefristet. „Das war stinklangweilig“, sagt er. „Es gab einfach nichts zu tun.“ Erst Ende Januar sei er von einer deutschen Familie aufgenommen worden. Erst Platt, dann Hessisch, dann Deutsch „Wenn ein junger Mensch in so kurzer Zeit so viele Eindrücke verarbeiten muss, selektiert er“, antwortet Jovari auf die Frage von Redakteurin Lüning, ob er auch Unschönes in Friedland erlebt habe. Aber soweit er sich erinnere, hätten die Deutschen die Ungarn freundlich empfangen. „Ich wurde reich mit Schokolade beschenkt“, betont Jovari. Wie und wo er Deutsch gelernt habe, will Lüning wissen. Zunächst kaum, antwortet der 70-Jährige fast akzentfrei. „Aber ich hätte es von Anfang gerne“, fügt er hinzu. In Friedland habe er ein kleines Wörterbuch bekommen – mit gerade einmal 120 Vokabeln. Und da seine späteren Pflegeeltern in Norddeutschland wohnten, habe er zunächst nur Platt-, aber kein Hochdeutsch mitbekommen. Und als er nach Hessen gezogen sei, „wurde halt hessisch gebabbelt“, sagt er. Erst lange Zeit nach seiner Lehre zum Gold- und Silberschmied habe er „anständiges Hochdeutsch“ gelernt. Heute ist das Grenzdurchgangslager ein Zentrum für Integration. „Noch immer kommen jährlich rund 2.500 Spätaussiedler. Außerdem werden besondere Flüchtlingsgruppen aufgenommen – zuletzt Libyer“, sagt Projektleiter Oliver Krüger. Diese würden in Integrationskursen in Friedland auf ihr Leben in Deutschland vorbereitet. Nach fast 56 Jahren in Deutschland fühlt ich aber auch Ferenc Jovari nach eigenem Bekunden voll integriert. „Im Herzen bin ich Ungar, aber im Rheinland bin ich zu Hause“, sagt er. dapd (Politik/Politik)

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Peer-Michael Preß

Peer-Michael Preß – Engagement für die Unternehmerinnen und Unternehmer in der Region seit fast 20 Jahren. Als geschäftsführender Gesellschafter des Unternehmens Press Medien GmbH & Co. KG in Detmold ist er in den Geschäftsfeldern Magazin- und Fachbuchverlag, Druckdienstleistungen und Projektagentur tätig. Seine persönlichen Themenschwerpunkte sind B2B-Marketing, Medien und Kommunikationsstrategien. Sie erreichen Peer-Michael Preß unter: m.press@press-medien.de www.press-medien.de

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