Frau Merkel, das stimmt so nicht

Frau Merkel, das stimmt so nicht Berlin (dapd). Werner Erhardt gehört an diesem Tag im Kanzleramt zu den Gewinnern. Nicht nur, dass er bei tausenden Teilnehmern des Bürgerdialogs von Regierungschefin Angela Merkel unter die 20 besten Vorschläge gewählt wurde. Merkel findet seine Idee auch noch gut. „Ich bin dabei“, verspricht die CDU-Vorsitzende dem grauhaarigen Mann, der das nicht ohne Stolz registriert. Erhardt hat zwar gerade keine Steuererleichterungen durchgeboxt, aber immerhin: Sein Werben für ein „Einheitliches Wiedervereinigungsdenkmal“ aus einer Dreiergruppe Bäume kommt an. Seit Anfang Februar diskutiert Merkel im Internet mit Bürgern über Deutschlands Zukunft. Ein paar Termine im realen Raum gab es auch, in Erfurt, Bielefeld und Heidelberg sprach Merkel direkt mit den Bürgern. Ansonsten: 1,7 Millionen Aufrufe der Internetseite, 11.618 Vorschläge und mehr als 74.000 Kommentare. Die Bürger konnten abstimmen und so ihre Hitliste der zehn besten Vorschläge erstellen, weitere zehn Vorschläge wurden von Experten sowie Mitarbeitern von Bundespresse- und Kanzleramt aufs Podest gehoben. Am Dienstag hatte Merkel diese 20 Männer und Frauen in ihrem Amtssitz zu Gast: Bankettsaal des Kanzleramtes, fünfter Stock, Blick aufs Reichstagsgebäude zur einen und aufs Sony-Center zur anderen Seite. „Wir sind kein Entscheidungsgremium. Heute geht keiner nach Hause und sagt: Ja, wird gemacht“, macht Merkel zu Anfang klar. Gerade hat sie noch ein paar Stockwerke tiefer den slowakischen Ministerpräsidenten Robert Fico getroffen und über die Euro-Krise gesprochen, jetzt geht es unter anderem um die Abschaffung des „Gesetzes, das den sexuellen Missbrauch von Tieren zulässt“, die Abschaffung der GEZ, die Legalisierung von Cannabis oder die Schaffung eines bedingungslosen Grundeinkommens. Die Stimmung ist natürlich etwas angespannt, man kommt nicht jeden Tag ins Kanzleramt, trifft nicht jeden Tag die deutsche Regierungschefin, und auch die räumt freimütig ein: „Wir haben uns heute alle auf ein Abenteuer eingeladen, auf etwas Unbekanntes.“ „Ich möchte mich erst mal bedanken, dass Sie überhaupt mitgemacht haben, bei diesem Bürgerdialog“, leitet Merkel ein, dann wird es auch schon ernst in der Runde. Beate T. fordert, die Regierung möge „die Erfüllung des Kinderwunsches finanzierbar machen“. Die Diagnose Unfruchtbarkeit löse einen Schock aus, die Behandlung sei unheimlich teuer, trägt sie souverän vor. „Wenn sich nur Reiche fortpflanzen dürfen, ist das dann Selektion?“, fragt sie und fordert, die Kostenübernahme solle nicht von Regeln, sondern vom individuellen Fall abhängig gemacht werden. Merkel hört aufmerksam zu, würdigt den Mut der Menschen, die sich mit diesem Thema an die Öffentlichkeit trauen. Beim Thema Unfruchtbarkeit – später auch bei der Sterbehilfe – geht es um vieles, was Merkels Partei im tiefsten Inneren berührt, um den Schutz der Ehe zum Beispiel. Die Kanzlerin kann das in dieser Runde nicht tiefschürfend diskutieren, dafür ist das Thema zu groß und die Zeit zu knapp. Anderthalb Stunden sind angesetzt, 90 Minuten für 20 Statements. Später wird sich zeigen, dass Merkel überzieht. Das Kinderwunsch-Thema trifft Merkel natürlich nicht unvorbereitet – sie hat zu allen 20 Themen Stichwörter vorbereitet -, sie verweist auf Familienministerin Kristina Schröder, die habe bereits vorgeschlagen, dass bei künstlicher Befruchtung ein höherer Kostenanteil übernommen werde. „Wir wollen keine Gesellschaft, die nur den Reichen die Erfüllung des Kinderwunsches möglich macht“, sagt Merkel. Beate T. dankt, sie ist offensichtlich zufrieden. Die Dramaturgie des Treffens sieht vor, dass ausgerechnet auf den Kinderwunsch das Thema Geburten folgt. Nitya Runte wirbt für die Sache der Hebammen und natürliche Geburten. Kaiserschnittgeburten seien ohne Risiko? „Frau Merkel, das stimmt so nicht“, sagt Runte freundlich, aber bestimmt. Hebammen könnten nicht mehr von ihrer Arbeit leben, sagt sie noch, Merkel verspricht: Bis Ende September hat ein Gespräch stattgefunden, sie werde auch den Gesundheitsminister deswegen ansprechen. „Gut. Oder auch nicht gut“, schließt Merkel diese Themenrunde, schließlich sei das Problem „noch nicht gelöst“. Über die „Novellierung des Altenpflegegesetzes“ und ein „Sterben in Würde“ rückt die Zeit vor. Es ist 15.10 Uhr, vierzig Minuten sind um, erst vier Teilnehmer sind durch. Werner Erhardt stellt sein Wiedervereinigungsdenkmal vor, spricht von überschaubaren Kosten und einer einfachen Gestaltung. Das muss die Politik doch locken. Tut es. „Ich finde ihre Idee schön“, sagt Merkel. Das müsse man mit den kommunalen Spitzenverbänden mal besprechen. Sie werde das tun, oder Innenminister Hans-Peter Friedrich. „Aber Sie müssten dann auch bereit sein, sich mit dahinter zu klemmen“, fordert sie den Ideengeber auf. Martin Thomas fordert eine offene Diskussion über den Islam, Norbert Voll – auf Platz eins gewählt – trägt seine Forderung nach einem „Gesetz gegen die Leugnung des Völkermordes an den Armeniern und Aramäern“ vor. Es ist 15.35 Uhr, Merkel mahnt freundlich eine Beschleunigung an, das kann sie, bestimmt sein, ohne den Menschen in die Parade zu fahren. „Ich weiß, dass man aufgeregt ist, aber jetzt kennen wir uns ja auch schon ein bisschen“, sucht sie den Vortragenden lächelnd die Spannung zu nehmen. Die Themen werden jetzt flüssiger abgehandelt, Sven Olav Dahl ist dran. Dahl fordert, dass zum Thema Waffenrecht „Fakten statt Lügen“ verbreitet werden. Er ist offenbar ein Waffennarr, im Internet betreibt er eine Seite, die offensiv für den Waffengebrauch eintritt. Die „unglaubliche und so nach 1945 noch nie da gewesene Medienhetze nach dem Amoklauf in Winnenden mit dem zwangsweise folgenden blinden politischen Aktionismus von Rot-Links-Grün“ habe ich dazu bewogen, diese Homepage zu entwerfen, schreibt er. Andere Waffenfreunde haben die Bürgerdialog offenbar gezielt genutzt, ihre Interessen voranzutreiben. „Um der Politik zu zeigen, dass wir uns diese verlogene Diskussion nicht mehr gefallen lassen, sollten Sie der Bundeskanzlerin mitteilen, dass Sie einen Politikwandel bei der Waffengesetzgebung möchte“, heißt es in einem Blog, ein Link verweist auf den Bürgerdialog im Internet. 94.421 Stimmen konnten so mobilisiert werden. Vierzig Minuten später als geplant schließt Merkel die Runde. „Ich hoffe, sie alle haben voneinander etwas gelernt“, sagt sie. ( www.dialog-ueber-deutschland.de ) dapd (Politik/Politik)

Veröffentlicht von

Peer-Michael Preß

Peer-Michael Preß – Engagement für die Unternehmerinnen und Unternehmer in der Region seit fast 20 Jahren. Als geschäftsführender Gesellschafter des Unternehmens Press Medien GmbH & Co. KG in Detmold ist er in den Geschäftsfeldern Magazin- und Fachbuchverlag, Druckdienstleistungen und Projektagentur tätig. Seine persönlichen Themenschwerpunkte sind B2B-Marketing, Medien und Kommunikationsstrategien. Sie erreichen Peer-Michael Preß unter: m.press@press-medien.de www.press-medien.de

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.